Wolfgang Altgeld hat sich in seinen Forschungen und Publikationen vor allem mit der Entwicklung des Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, dem deutschen Widerstand zwischen 1933 und 1945, der Geschichte des Christentums im 19. und 20. Jahrhundert sowie der Geschichte Italiens beschäftigt. 

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Bereits das Thema des Vortrags signalisiert, dass sich Altgeld nicht auf die deutsche Perspektive beschränkt, sondern einen international vergleichenden Ansatz wählt und dabei  auch auf die Radikalisierung des Nationalismus in anderen Ländern, z.B. in Frankreich, Großbritannien, Italien und Serbien eingehen wird.

Viele Elemente des völkischen und rassistischen Denkens, die konstitutiv für die faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts und die Ideologie des Nationalsozialismus wurden, finden sich bereits - erstaunlich weit ausgeprägt - im ausgehenden 19. Jahrhundert bei Vertretern eines radikalen Nationalismus, der in vielen europäischen Ländern vor allem auch bei gebildeten Schichten Zustimmung fand. Die europäischen Intellektuellen der Jahrhundertwende um 1900 - so Altgeld - standen mehrheitlich rechts, viele von ihnen sahen in der Integrationswirkung und Mobilisationskraft natonalistischer Vorstellungen den Ansatz zur Lösung der sozialen Probleme der modernen Industriegesellschaft.

In einem knappen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Nationalismus nach der Französischen Revolution wies der Historiker darauf hin, dass Nationalismus, Nationalstaatsidee aus historischer Sicht vergleichweise junge Phänomene darstellten. Im 19. Jahrhundert sei daraus eine Bewegung entstanden, die eine Mobilisierung der Massen erreichte und als sinnstiftende Ideologie alle Bereiche von Gesellschaft und Politik umfasste.

Zunächst noch vielfach in Form des sog. „Risorgimento“-Nationalismus, gepaart mit emanzipatorischen liberalen Forderungen, habe sich nach 1870 eine aggressivere chauvinistische Form des Nationalismus durchgesetzt, die als „integraler Nationalismus“ die absolute Vorrangstellung der eigenen Nation nach außen postuliert und den Kampf gegen äußere und innere Feinde zur offiziellen Maxime erklärt. 

Ein typisches Kennzeichen für diesen radikalen Nationalismus sind sozialdarwinistische Vorstellungen und Rassentheorie, wie sie etwa in Arthur de Gobineaus “Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen” formuliert werden und in abgewandelter Form auch in England (Houston Stewart Chamberlain) oder bei den „Wagnerianern“ in Deutschland verbreitet waren. Eng verknüpft mit diesen sozialdarwinistischen Vorstellungen ist auch die Forderung nach einem expansiven Imperialismus, der vielfach als Möglichkeit gesehen wurde, die Krisen der modernen Industriegesellschaft zu entschärfen.

Allerdings - so betont Wolfgang Altgeld - dürften bei all diesen Gemeinsamkeiten radikaler Nationalisten die unterschiedlichen Ausprägungen in einzelnen Ländern nicht übersehen werden. So tritt in Frankreich in den 1890er Jahren im Zusammenhang mit der Dreyfusaffäre der Antisemitismus offen zutage, in deren zeitlichen Umfeld auch 1898 die „Action française“ gegründet wird. Sie vertritt neben antisemitischen und autoritären, royalistischen Tendenzen vor allem auch einen stark ausgeprägten Katholizismus. Die katholische Religion wird hier als wertvolles und integratives Grundelement der französischen Nation betrachtet. Komplizierter liegen dagegen die Verhältnisse im konfessionell gespaltenen Deutschen Reich. Hier fehlt diese verbindende Klammer. Deshalb - so Altgeld - spiele der Antisemitismus als Integrationsideologie hier eine ausgeprägte Rolle, wie er beispielsweise vom langjährigen Vorsitzenden des „Alldeutschen Verbands“ Heinrich Claß in seinen Hasstiraden gegen die Juden bereits vor dem Ersten Weltkrieg vertreten wird. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband, vor allem aber der Alldeutsche Verband werden schon im Kaiserreich zum Sprachrohr völkischer und aggressiv antisemitischer Vorstellungen, die bereits viele Parolen der NS-Ideologie vorwegnehmen.

Dagegen spielt der Antisemitismus im radikalen Nationalismus Italiens keine Rolle. Sicherlich nicht nur - so Altgeld - weil hier nur etwa 50 000 Juden leben, sondern vor allem auch, weil sich im liberalen Königreich Italien - mit seiner Neutralität in Glaubensfragen - Staat und Gesellschaft in deutlicher Frontstellung zum katholischen Vatikan sahen, der durchaus antijudaistische Positionen einnahm. Dass viele Juden auch zur Zeit des Faschismus in Italien den Holocaust überlebt haben bzw. von dort aus fliehen konnten, liege wohl auch daran, dass Pflichterfüllung und bedingungslose Disziplin hier weniger verbreitet waren.

Kritisch setzt sich Prof. Altgeld abschließend mit der These auseinander, den beschriebenen Nationalismus und den später daraus entstandenen Faschismus als Ideologie der Antimoderne oder als bloß reaktionäre Weltanschauung einzustufen. Viel wirksamer für die öffentliche Wahrnehmung des Nationalsozialismus als die „Blut-und Bodenromantik“ sei die Technikbegeisterung einzustufen. Die Vordenker des radikalen Nationalismus sahen ihre Theorien durchaus als moderne Antwort auf die Probleme der industriellen Massengesellschaft, die den in ihren Augen überholten liberalen und egalitären sozialistischen Konzepten überlegen seien. Sie hielten ihre Vorstellung von „identitärer Demokratie“ (in der Volksgemeinschaft und Führer eine untrennbare Einheit bilden) dem liberalen Modell von Demokratie für überlegen. Ihre Bewegung erschien auch insofern als modern, als sie die modernen Medien geschickt zur Mobilisierung der Massen zu nutzen verstand und ihr bewusst war, dass eine politische Bewegung nur dann erfolgreich sein konnte, wenn sie die ungelösten sozialen Probleme der Industriegesellschaft lösen würde.  

Prof. Altgeld erwies sich in seinem Vortrag als profunder Kenner der europäischen Nationalismusgeschichte, der auch den Nichthistorikern im Publikum auf anschauliche und lebendige Weise klarmachte, welch fatale Strömungen vor dem Ersten Weltkrieg in Europa aufkamen. Altgeld verstand es in seiner engagierten und lebendigen Art der Darstellung, mit anschaulichen Beispielen und immer wieder auch mit überraschenden, teilweise ironischen Querbezügen zur Gegenwart, das Interesse der Zuhörer auf sich zu ziehen. Und es blieb sogar noch Zeit für Fragen aus dem Auditorium, die der Historiker auch nach fast zwei Stunden Vortrag noch detailliert beantwortete.