scheffel-zelterPreisverdächtige Literatur des Jahres 2010 gab es in der Mensa des Jack-Steinberger-Gymnasiums Bad Kissingen zu hören. Dies im höchst kontrastiven Doppelpack. Joachim Zelter – „Der Ministerpräsident“ – und Annika Scheffel – „Ben“ – gaben sich und den Gästen des KKKK und des Gymnasiums die Ehre. Ein arrivierter Nicht-Mehr-Geheimtipp und eine ganz neue Stimme mit ihrem Erstling.

Was die beiden von der Literaturkritik gefeierten Autoren vereinte, war ihre Vortragssicherheit und Leseprofessionalität. Den Anfang machte Joachim Zelter, ein Anwärter auf den letztjährigen Deutschen Buchpreis, ein Lokalheroe des deutschen Südwestens, wo er Lesung an Lesung reiht, ein seit „Schule der Arbeitslosen“ bundesweit gefeierter Seismograf der relevanten deutschen Nach-Agenda-Zustände und Befindlichkeiten.

Zelters Ton ist an Thomas Bernhard geschult. So erzeugt er eine bezwingende, entlarvende Komik. Stupend, insistierend, Halbsätze wiederholend und reihend, den Konjunktiv der indirekten Rede exzessiv gebrauchend. Dazu passt die weiche, elegante, distinguierte Vortragsweise. Zelter schmeckt seinen Text ab. Er setzt Pausen unauffällig, aber traumwandlerisch, um den komischen Effekt auszukosten.

Der Autor präsentiert den kraftvollen Beginn der Geschichte im Krankenhaus im Block. Der Ministerpräsident ist selbst der allgegenwärtige Ich-Erzähler, ein Kunstgriff, der es erlaubt, ganz auf ärztliche Expertise und medizinische Recherchehuberei zu verzichten. Wir begleiten einen der mächtigsten Politiker des Landes, wie er auf den Sprach- und Erkenntnisstand eines 7-Jährigen zurückgeworfen ist. Gleichzeitig wird dieser schwer verunfallte Mann aber weiter von den politischen Beratern als Sprechpuppe für den nächsten Wahlkampf und für vorgestanzte Auftritte gebraucht. Dies führt zu kafkaesken und brüllkomischen Situationen, aber auch zu Lagen am Rande der Tragik. Was passiert in und mit einem derart hilflos gewordenen Menschen, der seine Würde wahren will?

Das Salz in der Suppe ist die tragfähige Impulszündung des Textes: ein Ministerpräsident mit verflüchtigtem schwäbischem Dialekt erwacht im Krankenhaus mit ausradiertem Gedächtnis. Er erkennt weder seine Frau noch seine engste Umgebung, muss aber binnen kurzem wieder fit und funktionsfähig gemacht werden für die Regierungsgeschäfte. Diese Dieter-Althaus-Situation gibt Zelter Raum für unendlich viel. Für Satire und Ernst, für Abrechnung mit dem politisch-medialen Komplex, für grundphilosophische Fragen im Innenraum des Irritierten: Wozu und wofür leben wir?

Das Feuerwerk des Irrwitzes brennt planmäßig ab. Dazu zählen: erzkomische, kindlich verweigerte Wiederannäherungen an die fremd gewordene Gattin, die für den gutbürgerlichen Auftritt aber noch gebraucht wird. Ein parteiinterner medialer Machtkampf mit dem verhassten Fraktionschef, groteske Wahlkampfinszenierungen, Scharmützel mit dem seifigen Politikberater März, bissige Vergleiche mit dem Oppositionsführer, der als bullige Rampensau und göttlicher Populist dem bisher biederen Landesvater das Wasser abgraben will. Anleihen bei Oettinger, Lafontaine, Spreng, Althaus sind raffiniert durch eine Mühle der Generalisierung gelaufen, sodass man die Vorbilder noch schemenhaft erkennt, aber kaleidoskopartig viele Muster im geschliffenen Glas dieser filigranen Sprache sieht. Ein geniales, literarisch-letztgültiges Werk zum Thema.

Im zweiten Teil des Abends machte Annika Scheffel das Publikum mit warmer, rhythmusbegabter Rezitation mit ihrem Roman „Ben“ vertraut, der durch alle Raster fällt. Die Erzählerstimme hier hängt sich in einer komplexen Plotstruktur an eine Reihe skurriler Figuren und verfolgt einen Parzival-Weg Bens mit, der das Raum-Zeit-Kontinuum sprengt. Ist das ein moderner Märchenversuch, eine Krankheitsgeschichte eines – etwa - Depressiven? Eine Initiationsgeschichte? Eine hochironische Kommentierung der Generation Praktikum? Oft inszeniert die Sprache eine künstliche Langsamkeit der Figuren, an die man sich gewöhnen muss. Zuallererst beim Helden selbst, der vor seiner großen Liebe flieht, weil er eine geheimnisvolle Prophezeiung mit sich herumträgt, die ihn warnt, er bringe Lea, so heißt die Schöne, in tödliche Gefahr. Man begegnet bedeutungsaufgeladenen Personen, die sonst nur Randfiguren wären: einem Postboten, dem Altenheimbewohner Herrn May, der mit seinem Gebiss spricht, Herolden, dann auch sprechenden Pferden oder dem herumgeisternden – realen – Gevatter Hein. Grundfragen von Existenz, Bedeutung, Liebe und Tod werden verhandelt, in einem neomagischen Ton, in dessen Klang man sich fallen lassen oder gegen den man rebellieren kann. Tut man das eine, und das konnte man mit der Erzählstimme der Autorin besser als gedacht, wird die Lektüre wunderbar, tut man das andere, wird sie zum verstörenden Kraftakt.